Franz Rosenzweig (1886-1929) Notizen zum Barock – Gespräche in der Villa Vigoni 2019

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Franz Rosenzweig gilt als einer der bedeutendsten deutsch-jüdischen Denker vor allem wegen seines facettenreichen Hauptwerks „Der Stern der Erlösung“ (1921). In der umfangreichen Forschung blieb jedoch bisher ein früher Text zum Barock aus seiner Studienzeit in Berlin unberücksichtigt. Hier zeigt sich Rosenzweig – obzwar noch ganz jung – als ein unverwechselbarer und kreativer Denker. Im Rahmen des interdisziplinären Close Reading in der Villa Vigoni mit Philosophen, Theologen und Kunsthistorikern sowie Literatur- und Musikwissenschaftlern aus Deutschland und Italien konnten jetzt die verschiedenen Nuancen der Theorie Rosenzweigs erstmals aus der Blickrichtung der Kunst- und Kulturgeschichte erhellt werden.

Notizen zum Barock (1908/1909)
Durch eine weite Verwendung des Barockbegriffs, den es zu jener Zeit in den Einzelwissenschaften (Kunstgeschichte, Musikgeschichte etc.) noch nicht gab, bemühte Rosenzweig sich im intensiven Dialog mit den Epochen (wie Barock, Rokoko) vorrangig um ein Verständnis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in kultureller (künstlicher, musikalischer, philosophischer, wissenschaftlicher, politischer und poetischer) Hinsicht. Etliche dieser Überlegungen lassen sich schon als Ausgangsfragen seiner Bücher „Hegel und der Staat“ (1920) und „Der Stern der Erlösung“ verstehen, weshalb diesem frühen Text eine unerwartete Aussagekraft zukommt. [„Rosenzweig Jahrbuch / Rosenzweig Yearbook“, 2009, Nr. 4, S. 260-306 – zur Edition siehe unten]

In den Abschnitten über die bildende Kunst wurde deutlich, dass Rosenzweig Barock als „kulturelle Verhaltensweise“ zu verstehen versucht, um ein bestimmtes Geschichtsmodell der Epochenfolgen (hauptsächlich von Hegel ausgehend) zu postulieren. Seine Polemik richtete sich dabei gegen die Idee der Totalität (Stilbegriffe, die „zur Einheit zwingen“ oder Erscheinungen „vergewaltigen“), wogegen dem 19. Jahrhundert eine Synthese zu gelingen schien. Dies zeigte etwa seine, in der Kunstgeschichte bisher nicht so beachtete Betonung der Rolle des Zyklus (z.B. Alfred Rethel, Bonaventura Genelli) als interessante Prämisse für Fragen der Kunstrezeption, nachdem er zunächst etwas kontrovers vom „optischen Versagen der Anschauung“ sprach. Generell waren einzelne von ihm genannte Kunstwerke Prototypen für verschiedene kulturelle Verhaltensweisen. So etwa verdeutlichte der „Große Kurfürst“, das Reiterstandbild von Andreas Schlüter, zusammen gesehen mit dem Theaterstück „Prinz von Homburg“ von Heinrich von Kleist die Handlungsmöglichkeiten einer barocken Herrscherfigur. Das reflektierte er erweitert in seinem Staatsverständnis.

Vergleichbares ließ sich bei Rosenzweigs Umgang mit musikalischen Zeugnissen der Jahrhunderte – von Johann Sebastian Bach bis Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner – feststellen. Das „tyrannische Barockprinzip“ (Bach; gekennzeichnet durch den Willen des Komponisten, etwas in eine Reihenfolge zu bringen) werde abgelöst von der Vorstellung des Meeres oder der Welle etwa bei Wagner, bzw. des Linearen in der Musik. Hierzu – wie auch in der bildenden Kunst – korrespondiert auch der Begriff der „inneren Unermesslichkeit“ der Form.

Auch in der Philosophie sieht Rosenzweig einen barocken Machtanspruch (etwa die großen metaphysischen Systeme von Baruch Spinoza oder Gottfried Wilhelm Leibniz), dem er das rokokohafte Zurückgehen auf „das elementar Wirkliche“ entgegenstellt (z.B. beim Erfahrungsbegriff von David Hume, bei der formalen Logik von Christian Wolff und seiner Schule, oder bei der Lesart, mit der Johann Wolfgang Goethe Spinozas Naturbegriff versteht).
So hat das Close Reading in der Trilogie aus Der Barock (aus dem Tagebuch vom 9. bis 22. Juni 1908), Notizen zum Barock (1908/1909) und dem Referat auf der sogenannten Baden-Badener Tagung vom 9. Januar 1910 den Versuch Rosenzweigs erkannt, eine kulturelle Typologie der Gotik, der Renaissance, des Barock (17. Jh.), des Rokoko (18. Jh.), des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu entwickeln. Es handelt sich um einen systematischen Ansatz, der für den Autor sowohl in „Hegel …“ als auch im „Stern der Erlösung“ charakteristisch ist, so dass diese Trilogie als Rosenzweigs ältestes Systemprogramm definiert werden kann.
Außerdem wurde die Bandbreite der Quellen Rosenzweigs, aus denen er schöpfte, beispielsweise in der Philosophie resp. Ästhetik von Kant, Hegel bis Nietzsche und Simmel, durch den Arbeitscharakter seiner Ausführungen (Notizen, Tagebucheintragungen inkl. zahlreicher bisher nicht edierter Passagen etwa zur Musik, Kommentierungen, Marginalien) nun en Detail erschlossen. Dies kann nun für die weitere Forschung nutzbar gemacht werden.

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